Selbstversuch: Mein Leben mit Twitter
[Erschienen in der FAZ vom 23.08.2008]

Selbst Obama tut es: Über die Internetseite Twitter kann man der ganzen Welt jederzeit mitteilen, was man gerade so macht und denkt. In hundertvierzig Zeichen. Klingt banal, scheint überflüssig und macht nach einer Weile süchtig.

Es brauchte etwas Druck, mich zum Twittern zu bringen. Ein Kollege* sagte: „Mensch, du musst jetzt endlich auch mal twittern! Du verschläfst schon wieder alles! Das macht Spaß!“ Gut sechs Monate ist das her. Der Kollege ist zu diesem Zeitpunkt schon ein alter Twitter-Hase. Er kennt sich aus mit Trends im Internet. Er ist das, was man einen „Early Adopter“ nennt - einer, der immer schon ganz früh ganz genau Bescheid weiß, wohin die Reise geht. Ich vertraue seinen Ratschlägen. Und habe mir Twitter also mal angeschaut.

Die Anmeldung ist ganz leicht. Benutzername, Passwort, E-Mail-Adresse. Mehr braucht man nicht. Ein Profilbildchen dazu und ein, zwei Sätze zur Person, wenn man mag. Ansonsten geht es nur um dieses große, leere Feld da oben. Da schreibt man die Einträge hinein, die sogenannten Tweets, wie der Kollege erklärt. „Und was schreib' ich da jetzt hin?“, frage ich. „Na alles, was du gerade machst und denkst“, antwortet er. „Und warum?“ - „Na, weil das lustig ist. Wirst du sehen. Jetzt mach einfach mal. Macht bald eh jeder.“

Also schreibe ich meinen ersten Twitter-Tweet. „Hallo Welt, ich twittere jetzt auch“, schreibe ich. Das sind fünfunddreißig Zeichen. Hundertvierzig habe ich. Also noch viel Platz. „Habe aber noch keine Ahnung, was das soll und wie das geht“, ergänze ich. Neunundfünfzig Zeichen. Bleiben noch sechsundvierzig, das wird mir oben angezeigt. Ich belasse es dabei und klicke auf den Update-Button. Mehr habe ich der Welt jetzt nicht mitzuteilen. Kurze Ladezeit, dann steht er da, taufrisch: mein erster Tweet. Genau unter dem Feld, das jetzt wieder leer ist. Ich könnte also sofort nachlegen. Und verspüre Druck. Mir fällt nichts ein. Also schaue ich mich erst mal um.

Ziemlich trostlos, meine Seite. Gähnende Leere, alles ganz still. Hallo, ist jemand da? Oben entdecke ich ein Suchfeld. Ich gebe den Benutzernamen des Kollegen ein. Aha! Da passiert was. Mehrere hundert Tweets. Ich lese. Was er so macht, was er so denkt, was er so schreibt. Ganz banale Alltagsgedanken sind das, meist pointiert formuliert. Manchmal muss ich lachen. Ich klicke auf den großen Button unter seinem Bild, „Follow“ steht da drauf. Klick! Jeder neue Tweet meines Kollegen läuft jetzt auf meiner Seite ein. Wenn etwas passiert in seinem Leben, erfahre ich das sofort.

Rechts unten: viele bunte Bildchen. Die Abonnements des Kollegen. Ich klicke mich durch. Und finde allerhand Lustiges. „Manchmal wünsche ich mir Gerhard Schröder zurück. Nur so zum Bastasagen“, schreibt @bosch. „Kontostände sind prekäre Scheiße. Boheme hin oder her“, meckert @kumullus. „Will scrollen. Ist aber Zeitungspapier“, witzelt @tristessedeluxe. Ich muss wieder lachen. Klick!, klick!, klick!, drei weitere Abonnements. Ich kenne diese Leute zwar nicht, aber was sie schreiben, amüsiert mich.

Dann entdecke ich Barack Obama. Auch der twittert. Von seinem Wahlkampf, wo er gerade ist, was er da macht, wie es so läuft. Ich abonniere ihn, ein bisschen Mitmachen beim großen Hype wird wohl erlaubt sein. Nur wenige Augenblicke später erhalte ich eine Mail: „Barack Obama is now following your Updates on Twitter.“ Huch! Barack Obama hat mich abonniert, will wissen, wie es läuft bei mir. Natürlich ist mir klar, dass da irgendwer irgendwas programmiert hat, so dass neue Abonnenten sofort zurückabonniert werden. Trotzdem freue ich mich. Barack Obama, mein erster Follower.

Schnell finde ich alte Bekannte. Die halbe Blogger-Welt ist vertreten. Die meisten konnten ihre Prominenz hinüberretten. Mercedes Bunz oder Stefan Niggemeier twittern nicht mal aktiv, haben lediglich ein Benutzerkonto - und über hundert Follower. Einer der bekanntesten deutschen Blogger, Sascha Lobo, ist auch einer der prominentesten deutschen Twitterer. Über zweitausend Abonnenten, knapp tausend Abonnements. Auf seiner Seite muss die Hölle los sein. Da müssen die Tweets im Sekundentakt reinrauschen. Die totale Infoflut. Ein Tweet lautet: „Argh! Laptop auf 19%, iPhone 1 auf 20%, iPhone 2 auf 10% Akku. Ich kann jetzt nur das Allernötigste twittern.“ Ich followe ihm.

Nach ein paar Wochen habe ich bereits eine stattliche Abonnentenzahl. Und einen Lieblings-Twitterer: @tristessedeluxe. Er schreibt Sachen wie: „Im Keller. Suche den Grill. Kaum Netz.“ Wenn nichts los ist, schreibt er: „Habe gerade nichts mitzuteilen“, wenn er schlecht gelaunt ist: „Morgen lösche ich alles.“ Nicht einmal durch Schlaf lässt er sich vom Twittern abhalten: „Ich schlafe noch. Dank Tweetlater.com kann ich trotzdem twittern.“ Es ist die Begeisterung über die eigene Begeisterung, die mich so begeistert. Ein Supersatz eigentlich. Müsste man mal twittern.

Nach ein paar Wochen ist Twitter allgegenwärtig. Immer häufiger ertappe ich mich bei der Überlegung, was ich als Nächstes schreiben könnte. Oft twittere ich von unterwegs, per Handy, damit ich einen guten Einfall nicht vergesse. Internetfähig ist mein Handy nicht, es ist alt, also twittere ich per SMS, das geht auch, ist allerdings teuer. Aber egal, bei manchen Tweets muss es einfach raus. Twitter fußt auf den drei großen Säulen des sogenannten Social Web: Selbstdarstellung, Voyeurismus, Unterhaltung. Alle drei Impulse haben mich gepackt. Wenn ich online bin, ist Twitter offen. Die Gedanken wandern immer öfter zum nächsten Tweet.

Eines Morgens twittere ich: „Ach ja: Hab' mir heute Nacht um vier noch Tortellini gekocht. War aber zu betrunken, das auch zu twittern. Sorry! Kommt nicht wieder vor.“ Als der Kollege das liest, ist er total happy: „Super-Tweet! Echt! Richtig gut! Habe sehr gelacht! Weiter so!“ Ich bin stolz. Aber auch verlegen. Weil's ja gar nicht gestimmt hat. Mir gefiel nur der Gedanke so gut: Wie das sein könnte, dass etwas derart Bedeutendes in meinem Leben passiert, ohne dass ich es twittere. Dass mir das dann vielleicht peinlich wäre. War aber nur so ein Gedanke.

Und während ich das schreibe, fällt mir auf: Das ist ganz schön selbstreferentiell, sich einfach so selbst zu zitieren. Und eigentlich will ich das sofort wieder löschen, doch dann denke ich: Nein, das bleibt drin, denn ganz genau so ist Twitter: selbstverliebt, selbstreferentiell. Bestes Beispiel war die Twitterlesung kürzlich in der Berliner Kulturbrauerei. Da traf sich die Twitter-Prominenz und las vor rund zweihundert Zuschauern lustige Tweets. Oftmals die eigenen. Anfangs war das ungemein unterhaltsam, nach einer Stunde glitt es ab. Es wurde zu selbstverliebt, zu selbstreferentiell. Scheint also, als wäre ich jetzt angekommen in der Twitter-Welt. Ein Dank an den Kollegen!

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* LEAK: Hinter dem Kollegen verbirgt sich übrigens der geschätzte @hipcheck